Reichsprogromnacht - Über einen der dabei

Einer, der dabei war

Eine zwei Jahre jüngere Schwester berichtet, wie ihr Bruder die Reichspogromnacht erlebt in Flieden hat. Erinnerungen von Hilde Schwarz (5.8.1927 - 25.6.2019), Flieden-Struth Aufgezeichnet von Dr. Friedhelm Röder, Flieden-Struth Gelesen von Kathrin Wittich-Jung, Wolfhagen Erich war 1938 dreizehn Jahre alt. Er hat ein Schreiben gekriegt, von welcher Stelle, weiß ich nicht, dass für das Jungvolk abends bei Einbruch der Dunkelheit an der Synagoge Treffpunkt war. Warum, stand nicht im Schreiben. Es bestand Erscheinungspflicht. Nur die Jungens waren aufgefordert worden, nicht jedoch die Mädchen. „Wir waren alle noch auf, weil wir keine Ruhe hatten. Da kann man doch nicht einfach ins Bett gehen. Wir haben alle auf ihn gewartet. Wir saßen in der Küche, schälten Äpfel, machten Bratäpfel. Das Feuer im Herd ging aus. Es wurde kalt. Wir waren alle müde. Es wurde kein Holz nachgelegt. Wir wollten ja alle ins Bett. Er kam völlig verstört wieder. Er kam mitten in der Nacht so gegen Mitternacht heim. Sein Gesicht war schwarz. Ich habe vor allem sein Gesicht in Erinnerung. Die Haare waren struppig. Im Gesicht und in den Haaren waren schwarze Streifen, wie wenn man sich mit schmutzigen Händen durchs Gesicht und die Haare fährt. Er war eigentlich blond. Ich weiß nicht, was er gemacht hat. Ob er Bücher oder irgendetwas ins Feuer geworfen hat. Ich weiß nicht, welche Funktion er gehabt hat. Er kam normal durch die Haustür und direkt um die Ecke rechts rum in die Küche. Auf einmal machte er die Tür auf und stand da. „Ich konnt mösch nicht meh ongeguckt! Es woar schlemm!“ Nach seinem Reden habe er sich nicht abgemeldet, sondern sich davon geschlichen. Denn das ging ja die ganze Nacht mit der Feuerwehr und allem. Er kam rein und stand zunächst da und sagte sofort, dass er es nicht mehr mit ansehen konnte und dass er abgehauen sei. Wir saßen alle am Tisch, als er reinkam. Wir waren ja auch erschrocken über den Anblick! Er stand mit hängenden Armen da. Er war fertig! Er war hilflos. Alles lief ohne Wort ab, alles! Die Situation und die Körpersprache haben eigentlich alles ausgesagt. Er ließ alles mit sich machen, was sonst nicht seine Art war. Er habe nur die Arme angehoben, während die Mama ihm das Hemd auszog. Das war völlig unüblich. Das hat er doch sonst immer selber gemacht. Er ließ sich doch nicht von der Mama an- oder ausziehen. Sie gab ihm neue Unterwäsche, Seife und ein Handtuch. Sie stellte ihm die Waschschüssel hin. Ich merkte, dass er Angst hatte. Mein Vater hat ihm dann gesagt, dass er hinter ihm stehen würde, falls die Führer – wie die hießen, weiß ich nicht mehr, die waren ja auch irgendwie gestaffelt – ihm Schwierigkeiten wegen seines vorzeitigen Weggehens machen würden. Das Feuer muss ja noch am nächsten Morgen gebrannt haben. Die ganze Bevölkerung war irgendwie geschockt. In den Kriegsjahren und in den Jahren danach wurde das totgeschwiegen. Darüber wurde nie gesprochen. Später hat Erich dann erzählt, dass sie bei der Zerstörung der Synagoge alle Bücher aus der Synagoge herausgeholt und auf einen Haufen geworfen hätten. Diesen Haufen hätten sie dann mit Benzin angesteckt. Das habe so ein großes Feuer gegeben, dass die Nachbarn Angst bekommen hätten, das Feuer könnte sich ausbreiten. Wo es jetzt neben der Kirche links einen Saal gibt für Versammlungen, habe es damals ein unbebautes Grundstück gegeben, das Eigentum der jüdischen Gemeinde war. Darauf sei das Feuer mit den Büchern angezündet worden.“
„Bruchlinien“-
Ein jüdisch-christliches Kunstwerk      in der Ev. Kirche / ehem. Synagoge Flieden     -
Unterdrückung jüdischen Lebens in Flieden
Reichsprogromnacht - Über einen der dabei

Einer, der dabei war

Eine zwei Jahre jüngere Schwester berichtet, wie ihr Bruder die Reichspogromnacht erlebt in Flieden hat. Erinnerungen von Hilde Schwarz (5.8.1927 - 25.6.2019), Flieden-Struth Aufgezeichnet von Dr. Friedhelm Röder, Flieden-Struth Gelesen von Kathrin Wittich-Jung, Wolfhagen Erich war 1938 dreizehn Jahre alt. Er hat ein Schreiben gekriegt, von welcher Stelle, weiß ich nicht, dass für das Jungvolk abends bei Einbruch der Dunkelheit an der Synagoge Treffpunkt war. Warum, stand nicht im Schreiben. Es bestand Erscheinungspflicht. Nur die Jungens waren aufgefordert worden, nicht jedoch die Mädchen. „Wir waren alle noch auf, weil wir keine Ruhe hatten. Da kann man doch nicht einfach ins Bett gehen. Wir haben alle auf ihn gewartet. Wir saßen in der Küche, schälten Äpfel, machten Bratäpfel. Das Feuer im Herd ging aus. Es wurde kalt. Wir waren alle müde. Es wurde kein Holz nachgelegt. Wir wollten ja alle ins Bett. Er kam völlig verstört wieder. Er kam mitten in der Nacht so gegen Mitternacht heim. Sein Gesicht war schwarz. Ich habe vor allem sein Gesicht in Erinnerung. Die Haare waren struppig. Im Gesicht und in den Haaren waren schwarze Streifen, wie wenn man sich mit schmutzigen Händen durchs Gesicht und die Haare fährt. Er war eigentlich blond. Ich weiß nicht, was er gemacht hat. Ob er Bücher oder irgendetwas ins Feuer geworfen hat. Ich weiß nicht, welche Funktion er gehabt hat. Er kam normal durch die Haustür und direkt um die Ecke rechts rum in die Küche. Auf einmal machte er die Tür auf und stand da. „Ich konnt mösch nicht meh ongeguckt! Es woar schlemm!“ Nach seinem Reden habe er sich nicht abgemeldet, sondern sich davon geschlichen. Denn das ging ja die ganze Nacht mit der Feuerwehr und allem. Er kam rein und stand zunächst da und sagte sofort, dass er es nicht mehr mit ansehen konnte und dass er abgehauen sei. Wir saßen alle am Tisch, als er reinkam. Wir waren ja auch erschrocken über den Anblick! Er stand mit hängenden Armen da. Er war fertig! Er war hilflos. Alles lief ohne Wort ab, alles! Die Situation und die Körpersprache haben eigentlich alles ausgesagt. Er ließ alles mit sich machen, was sonst nicht seine Art war. Er habe nur die Arme angehoben, während die Mama ihm das Hemd auszog. Das war völlig unüblich. Das hat er doch sonst immer selber gemacht. Er ließ sich doch nicht von der Mama an- oder ausziehen. Sie gab ihm neue Unterwäsche, Seife und ein Handtuch. Sie stellte ihm die Waschschüssel hin. Ich merkte, dass er Angst hatte. Mein Vater hat ihm dann gesagt, dass er hinter ihm stehen würde, falls die Führer – wie die hießen, weiß ich nicht mehr, die waren ja auch irgendwie gestaffelt – ihm Schwierigkeiten wegen seines vorzeitigen Weggehens machen würden. Das Feuer muss ja noch am nächsten Morgen gebrannt haben. Die ganze Bevölkerung war irgendwie geschockt. In den Kriegsjahren und in den Jahren danach wurde das totgeschwiegen. Darüber wurde nie gesprochen. Später hat Erich dann erzählt, dass sie bei der Zerstörung der Synagoge alle Bücher aus der Synagoge herausgeholt und auf einen Haufen geworfen hätten. Diesen Haufen hätten sie dann mit Benzin angesteckt. Das habe so ein großes Feuer gegeben, dass die Nachbarn Angst bekommen hätten, das Feuer könnte sich ausbreiten. Wo es jetzt neben der Kirche links einen Saal gibt für Versammlungen, habe es damals ein unbebautes Grundstück gegeben, das Eigentum der jüdischen Gemeinde war. Darauf sei das Feuer mit den Büchern angezündet worden.“
„Bruchlinien“-
Ein jüdisch-christliches Kunstwerk      in der Ev. Kirche / ehem. Synagoge Flieden     -
Unterdrückung jüdischen Lebens in Flieden
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